Kernaussagen
Standard zuerst prüfen, viele „Lücken“ lösen sich von selbst.
Customizing nur bei echtem Geschäftsbedarf, nicht aus Gewohnheit.
Erweiterungen in Stufe 0–2 sichern Stabilität und Updatefähigkeit.
Governance sorgt für klare, nachhaltige Entscheidungen.
ERP-Anpassung richtig entscheiden: Wann Customizing sinnvoll ist – und wann Prozesse geändert werden sollten
In vielen Projekten beginnt die Diskussion über Anpassungen erstaunlich früh. Oft liegen schon in den ersten Workshops lange Wunschlisten auf dem Tisch: zusätzliche Felder, alternative Masken, spezielle Freigabeschritte, Berechnungslogiken, individuelle Reports. Der Eindruck entsteht, als müsse das ERP zuerst an das Unternehmen angepasst werden, bevor man überhaupt produktiv arbeiten könne.
Doch in der Praxis zeigt sich ein wiederkehrendes Muster: Ein großer Teil dieser „Anforderungen“ verschwindet, sobald klar ist, wie der Standard tatsächlich funktioniert. Und noch wichtiger: Viele Anforderungen wären im Standard abbildbar, wenn Unternehmen bereit wären, sich minimal an die Systemlogik anzunähern.
Diese Beobachtung ist kein Randphänomen. Sie ist typisch – gerade in der Cloud, wo Hersteller standardnahe Nutzung bewusst fördern und tiefes Customizing als Ausnahme vorgesehen ist.
Der Kern der Frage: Passt das ERP grundsätzlich zu unserer Branche?
Bevor über Anpassungen gesprochen wird, geht es um etwas Grundsätzlicheres:
Kann das System unsere Pflichtprozesse überhaupt tragen?
Damit gemeint sind die Prozesse, die Ihr Geschäftsmodell zwingend benötigt. Dazu gehören je nach Branche:
- Industrie: Variantenfertigung, Chargenführung, Rückverfolgbarkeit, Fremdfertigung, Servicelogistik
- Handel: Preis-/Konditionslogik, EDI, Lagerstrategien, Retouren, Dropshipping
- Projektgeschäft: projektbasierte Kalkulation, Fakturierung, Ressourcenplanung
- Dienstleistung: Zeiterfassung, Abrechnung, Vertragsmanagement
Erfüllt das ERP diese Anforderungen nur mit Verrenkungen, ist die Antwort klar:
Kein Customizing. Das falsche System bleibt auch angepasst das falsche System. In diesem Fall sollte das eingesetzte bzw. in der Auswahl befindliche System auf den Prüfstand gestellt werden und Alternativen evaluiert werden.
Warum viele „Lücken“ keine echten Lücken sind
In vielen Unternehmen existiert eine starke historische Prägung. Prozesse haben „sich ergeben“, weil alte Systeme technisch limitiert waren oder einzelne Fachbereiche kreative Workarounds gebaut haben. Mit den Jahren verfestigen sich diese Abläufe – sie wirken „natürlich“, obwohl sie in Wirklichkeit Sonderwege sind.
Ein Beispiel aus einem mittelständischen Produktionsunternehmen:
Die Disposition plante täglich in Excel anhand einer eigenen Priorisierungslogik. Das alte ERP konnte diese Logik nie korrekt abbilden. Im Cloud-ERP dagegen war eine regelbasierte Priorisierung standardmäßig enthalten – inklusive Simulation und Auslastungsprüfung.
Als die Teams zwei Wochen im Standard gearbeitet hatten, stellte sich heraus, dass acht der elf als „zwingend“ formulierten Anforderungen gar nicht mehr nötig waren. Die Standardlogik war robuster, weniger fehleranfällig und für die Mitarbeitenden letztlich leichter zu verwenden.
Solche Fälle sind typisch. Die „Lücke“ ist in Wahrheit nicht im ERP, sondern fehlende Bereitschaft und Offenheit sich mit dem Standard zu beschäftigen.
Eine Fit-Gap-Analyse ist sinnvoll wenn es um die Einführung eines neuen ERP-Systems geht. Aber nur, wenn sie konsequent zwischen wertrelevanten Gaps und Gewohnheitsmustern unterscheidet.
- MUST bedeutet: Ohne diese Funktion kann das Geschäft nicht zuverlässig laufen.
- SHOULD bedeutet: Es gibt echten Mehrwert, aber keinen Zwang.
- COULD bedeutet: Komfort, Optik oder individuelle Vorlieben.
Daraus folgt ein zentraler Grundsatz: Man kann nur über Anpassungen sprechen, wenn man vorher verstanden hat, was der Standard kann — nicht umgekehrt.
Upgrade oder Ablösung – der natürliche Zeitpunkt für harte Entscheidungen
Der richtige Zeitpunkt für die Frage „Anpassen oder wechseln?“ ist der Moment, in dem ohnehin Bewegung entsteht:
- ein Major-Release steht an
- eine On-Premise-Lösung soll in die Cloud
- ein Modul oder Funktionsbereich wird reorganisiert
- bestehende Anpassungen bremsen Releases aus
In diesen Phasen lohnt sich die Frage: Ist das System grundsätzlich geeignet – oder sind Anpassungen nur ein Versuch, grundlegende Lücken zu kaschieren?
Wenn der Branchen-Fit nicht gegeben ist, ist jedes Customizing ein teures Pflaster.
(Hier binden wir im finalen Artikel den internen Link „ERP-Upgrade oder Ablösung“ ein.)
Was ist überhaupt „Anpassung“? – Ein Stufenmodell für moderne ERP-Landschaften
Viele Diskussionen über ERP-Anpassungen scheitern an einem einfachen Umstand: Der Begriff „Customizing“ wird unscharf verwendet. Für die einen bedeutet er das Setzen eines Parameters, für die anderen das Schreiben eigener Tabellen und Logiken. Das führt zu Missverständnissen darüber, was technisch sinnvoll, was riskant und was langfristig tragfähig ist.
Gerade im Cloud-ERP-Kontext ist diese Differenzierung entscheidend, weil Hersteller sehr klar zwischen erlaubten Erweiterungspunkten, kontrollierten Anpassungsmöglichkeiten und verbotenen Kernmodifikationen unterscheiden. Damit Unternehmen belastbare Entscheidungen treffen können, braucht es ein Modell, das transparent macht, wo eine Anpassung entsteht, wie sie betrieben wird und welche Auswirkungen sie hat.
Das folgende Stufenmodell hat sich in der Praxis etabliert und wird von führenden ERP-Herstellern in sehr ähnlicher Form gelebt — auch wenn sie unterschiedliche Begriffe dafür verwenden (SAP: „Clean Core“, Microsoft: „Extensions“, Oracle: „PaaS for SaaS“).
Stufe 0 – Konfiguration: Die reine Systemnutzung ohne Anpassung
Konfiguration ist die Basis jedes ERP-Systems. Hier werden Felder aktiviert, Parameter gesetzt, Rollen vergeben, Drucklayouts gestaltet oder Pflichtfelder definiert. Nichts davon verändert die Systemlogik, nichts greift tief ein, und alles bleibt vollständig updatefest.
Typisch ist etwa das Aktivieren zusätzlicher Felder für Kundenstammdaten oder das Festlegen, dass eine Bestellung über einer bestimmten Summe eine Genehmigung benötigt. Die gesamte Logik bleibt dabei im Standard, und das ERP verhält sich genauso, wie der Hersteller es vorgesehen hat.
Konfiguration ist deshalb die erste Option, wenn es um Anforderungen geht, die keinen neuen Prozess erzeugen, sondern vorhandene Funktionen schärfen.
Stufe 1 – In-Platform-Erweiterung: Anpassen innerhalb der vom Hersteller vorgesehenen Leitplanken
Die nächste Stufe erlaubt mehr: Hier geht es um das Hinzufügen kleinerer Regeln, Logiken oder UI-Anpassungen — aber innerhalb der offiziell vorgesehenen Erweiterungspunkte des ERP-Systems.
Diese Erweiterungen laufen direkt im ERP-Tenant, nutzen dessen Berechtigungen, Transportmechanismen und Sicherheitsmodelle und werden bei Hersteller-Updates automatisch mitgehoben. Das ist entscheidend: Stufe-1-Erweiterungen sind so konzipiert, dass sie den Granularitätsgrad des Standards beibehalten.
Typische Werkzeuge sind:
- SAP: Custom Fields and Logic, Business Rules, Custom Business Objects, UI-Adaption in Fiori
- Microsoft Dynamics 365: Extensions, Business Events, einfache Power-Apps direkt am ERP-Datenmodell
- Oracle Fusion: App Composer, Visual Builder für UI- und Formularlogik
Beispiel aus der Praxis:
Ein Unternehmen möchte sicherstellen, dass Neukunden erst angelegt werden dürfen, wenn bestimmte Pflichtinformationen vorliegen (z. B. Steuernummer, Kreditlimiteinstufung, Geschäftskategorie). Im Standard gibt es zwar Felder, aber nicht die gewünschte Prüflogik.
Über eine in-app Business Rule wird daher beim Speichern des Kunden ein Validierungsschritt eingebaut. Kein Eingriff in den Kern, kein neuer Service — aber eine geschäftskritische Prüfung.
Der Vorteil von Stufe 1: Sie erweitert sinnvolle Businesslogiken, ohne die Updatefähigkeit zu gefährden.
Stufe 2 – Side-by-Side-Extensions: Ergänzen, ohne das ERP selbst zu verändern
Während Stufe 1 im ERP selbst lebt, bewegt sich Stufe 2 neben dem ERP. Es handelt sich um eigenständige Services, Workflows oder Automatisierungen, die über APIs oder Events angebunden sind.
Das ist der zentrale Unterschied:
- Stufe 1 läuft im ERP
- Stufe 2 läuft neben dem ERP
Beides ist updatefest, doch Side-by-Side-Lösungen haben eine eigene Release- und Betriebslogik. Sie bieten sich an, wenn etwas komplexer, individuell oder leistungsintensiver ist als das, was das ERP im Kern abbilden sollte.
Hersteller bieten dazu etablierte Plattformen:
- SAP: Business Technology Platform (BTP) mit CAP-/Node-/Java-Services
- Microsoft: Azure Functions, Dataverse, Power Automate, Logic Apps
- Oracle: OCI-Services, Visual Builder, Integration Cloud
Praxisbeispiel: automatische Bonitätsprüfung beim Neukunden
Wenn ein Neukunde angelegt wird, löst das ERP ein Event aus. Ein kleiner Service prüft automatisch bei einem externen Anbieter (z. B. Crefo) die Bonität, analysiert den Score und schreibt das empfohlene Kreditlimit zurück ins ERP.
Der Prozess läuft vollständig automatisiert, ohne dass der ERP-Kern verändert wurde.
Gleichzeitig kann dieser Service unabhängig aktualisiert, skaliert oder erweitert werden (z. B. anhand zusätzlicher Risikomodelle).
Stufe 2 ist ideal für:
- datenintensive Berechnungen
- komplexe Genehmigungslogiken
- branchenspezifische Auswertungen
- KI-/ML-Modelle
- Automatisierungen über APIs
- Integrationen mit Partnern
Die Kunst besteht darin, die Grenze zwischen ERP-Kern und eigenem Service sauber zu ziehen, sodass beide Systeme stabil bleiben.
Stufe 3 – Kernmodifikationen: Die Ausnahme, die nur in seltenen Fällen Sinn ergibt
Stufe 3 ist das, was viele früher „Customizing“ nannten: Eingriffe ins Datenmodell, Modifikationen von Tabellen, Bypassen von Geschäftslogiken oder das direkte Überschreiben von Herstellerfunktionalität.
Im On-Premise-Zeitalter war das oft üblich – teilweise sogar gewollt. Unternehmen bauten sich große Teile eines Systems selbst und hatten dafür Upgradefenster von mehreren Jahren.
Im Cloud-Zeitalter ist das Gegenteil der Fall: Hersteller bringen monatliche, quartalsweise oder jährliche Releases, und tiefes Custom Code wird für Unternehmen teuer und riskant.
Modifikationen bedeuten:
- sehr hoher Testaufwand
- hohe Abhängigkeit von Einzelwissen
- mögliche Inkompatibilitäten bei Updates
- potenziell erhebliche Auswirkungen auf Performance
Darum gilt heute ein klarer Grundsatz:
Kernmodifikation ist die Ausnahme — und braucht einen eindeutigen Business-Case sowie ein strukturiertes Governance-Verfahren.
Ein realistisches Beispiel:
Ein Unternehmen bietet eine extrem spezifische Kalkulationslogik, die ein echter Wettbewerbsvorteil ist. Der Standard ermöglicht die Berechnung nicht, und es gibt keine Möglichkeit, diese Logik als Stufe-1- oder Stufe-2-Erweiterung umzusetzen. Die Funktion beeinflusst Margen, Angebotserstellung und Lieferzusagen direkt.
Nur in solchen Fällen ist Stufe 3 überhaupt denkbar — und selbst dann sollte geprüft werden, ob ein eigenständiger Side-Service nicht die bessere Lösung ist.
Nachdem klar ist, wie sich Anpassungen voneinander unterscheiden, entsteht die entscheidende Frage: Wann lohnt sich eine Anpassung – und wann ist es besser, den Prozess an den Standard anzupassen?
Diese Frage entscheidet langfristig darüber, ob ein ERP-System stabil, updatefähig und finanziell tragbar bleibt.
Im Kern geht es dabei weniger um technische Möglichkeiten, sondern um Wert, Zukunftsfähigkeit und Risiko. Die meisten Fehlentscheidungen entstehen, wenn Anforderungen ungeprüft in Customizing übersetzt werden oder wenn historische Abläufe für unverzichtbar erklärt werden, ohne sie fachlich zu hinterfragen.
Die sechs Bewertungskategorien – mit diesem Schema sollte jede Anforderung bewertet werden
Statt lange Wunschlisten zu diskutieren, hilft ein einheitlicher Bewertungsrahmen. Er zwingt alle Beteiligten, Anforderungen aus derselben Perspektive zu betrachten:
- Prozesskritikalität
Kann der Prozess ohne Anpassung seine Aufgabe nicht erfüllen? Ein Muss-Kriterium für alle tiefen Eingriffe. - Differenzierung
Steckt darin ein Wettbewerbsvorteil oder ist es Branchenstandard? Viele vermeintliche „Must-haves“ entpuppen sich als reine Gewohnheit - Wirtschaftlichkeit
Lässt sich ein klarer Nutzen in den nächsten 18-36 Monaten belegen – Zeitersparnis, Fehlerreduktion, geringere Ausfälle? - Updatefähigkeit
Kann die Lösung in Stufe 1 oder 2 umgesetzt werden? Je tiefer der Eingriff in den Kern, desto höher die Folgekosten - Risiko & Compliance
Verhindert die Anpassung Fehler oder erhöht die Nachvollziehbarkeit? Gerade in Audit- oder Sicherheitsfragen können kleine Anpassungen großen Nutzen bringen - Betriebsfähigkeit
Ist die Lösung dauerhaft tragbar? Auch ein sinnvolles Feature kann scheitern, wenn der Betrieb zu komplex wird
Diese Kategorien ersetzen lange Diskussionen – sie schaffen Klarheit, Vergleichbarkeit und Transparenz.
Darum ist die Standardkenntnis der Schlüssel für weniger Anpassungen
Viele Lücken wirken im ersten Moment größer als sie sind. Ein kurzer Blick in den Standard, mit echten Daten und einem klaren Prozessschnitt, beantwortet oft eine zentrale Frage:
Ist die Lücke tatsächlich fachlich relevant – oder entsteht sie nur aus Unkenntnis der Systemlogik?
Der Standard-Pilot ist kein eigener Projektblock, sondern ein gezielter Klärungsschritt. Wenn die Bewertung zeigt, dass Unsicherheit besteht, reicht oft ein knapper Test:
- reale Beispielaufträge,
- zwei bis drei typische Varianten,
- ein kleiner Workflow.
Mehr braucht es selten, um vermeintliche Gaps sauber einzuordnen.
Warum nicht jede Lücke zu Customizing führen sollte
Selbst wenn ein Gap real ist, bedeutet das nicht automatisch, dass das System angepasst werden muss. Moderne Cloud-ERPs bieten viele Erweiterungsmöglichkeiten, ohne dass der Kern verändert wird.
Typische Beispiele sind Konfigurationen, in-app-Regeln, Ereignistrigger oder leichte Side-by-Side-Services.
Der entscheidende Gedanke lautet:
Eine Lücke ist keine Begründung für tiefes Customizing –
sondern eine Einladung, die beste Art der Erweiterung zu wählen.
Wer so denkt, landet in der Regel in Stufe 1 oder 2 und hält das System langfristig schlank und wartbar. Gerade in der heutigen App-Welt bieten sich viele Optionen die sinnvoll abgestimmt sein sollten.
Warum strukturierte Entscheidungen langfristig Kosten sparen
Viele Unternehmen unterschätzen den langfristigen Effekt schlechter Customizing-Entscheidungen. Die eigentliche Belastung entsteht nicht durch die Umsetzung, sondern durch:
- Pflege bei jedem Update,
- zusätzliche Tests,
- Abhängigkeiten zu anderen Modulen,
- Spezialwissen einzelner Personen,
- erschwerten Systemwechsel.
Die strukturierte Bewertung verhindert genau diese verdeckten Kosten.
Sie sorgt dafür, dass Anpassungen den Kern stabil lassen und echte geschäftliche Wirkung erzeugen – nicht nur kurzfristige Bequemlichkeit.
Cloud- & Composable-ERP pragmatisch nutzen
Mit dem Wechsel in die Cloud verändert sich nicht nur die Technologie, sondern auch der Blick auf Customizing. Hersteller liefern in festen Takten neue Funktionen, Sicherheitsupdates und Prozessverbesserungen. Dadurch gewinnt der Standard an Bedeutung: Er bildet die stabile Basis, auf der Unternehmen ihre Prozesse zuverlässig betreiben können. Die Frage verschiebt sich – weg von „Wie passen wir das System an unsere Abläufe an?“ hin zu „Wie nutzen wir das System so, dass Anpassungen zielgerichtet und nachhaltig bleiben?“.
In diesem Kontext wird der Gedanke des „Clean Core“ zentral. Gemeint ist eine Architektur, in der der ERP-Kern weitgehend unverändert bleibt, damit Updates und Innovationen ohne Reibungsverluste übernommen werden können. Individuelle Anforderungen verschwinden dadurch nicht. Sie werden nur anders realisiert: durch Konfiguration, durch klar abgegrenzte Erweiterungspunkte innerhalb des Systems oder durch entkoppelte Dienste, die über Schnittstellen angebunden werden. Das schafft Flexibilität, ohne die Stabilität zu gefährden.
Composable ERP: Erweiterungen dort platzieren, wo sie hingehören
Moderne ERPs bieten heute klare Erweiterungsmodelle. Viele Anforderungen lassen sich mit einer Kombination aus Konfiguration, in-app-Logik und leichten Side-by-Side-Integrationen sauber lösen. Entscheidend ist, den Geschäftsprozess nicht in den Kern einzubauen, sondern an definierten Stellen zu ergänzen.
Typische Wege, wie Unternehmen diese Modularität nutzen:
- Konfiguration und Regelwerke im System selbst
(z. B. Validierungen, Genehmigungen, Ereignislogiken)
- Erweiterungen im ERP-Tenant
(z. B. zusätzliche Felder oder kleine Logikbausteine an offiziellen Extension Points)
- Services neben dem ERP
(z. B. Berechnungsservices, Automatisierungen oder Datenanreicherungen über APIs oder Events)
Wichtig ist, diese Modularität bewusst zu gestalten. Auch entkoppelte Erweiterungen benötigen klare Verantwortlichkeiten, eine geregelte Qualitätssicherung und einen stabilen Betrieb. Sie funktionieren dann am besten, wenn sie wie kleine Produkte behandelt werden: mit definiertem Zweck, dokumentierten Schnittstellen und nachvollziehbarer Pflege über den Lebenszyklus hinweg. So bleibt die Gesamtlandschaft beherrschbar, ohne Innovation zu bremsen.
Viele moderne ERP-Plattformen erlauben heute zudem, dass Fachbereiche einfache Abläufe oder Prüfregeln selbst erstellen. Diese zusätzliche Flexibilität kann hilfreich sein, braucht aber Leitplanken. Geschwindigkeit ist keine Abkürzung: Ohne gemeinsame Standards entstehen schnell parallele Lösungen, die später schwer zu pflegen sind. Eine klare Abstimmung darüber, was dezentral entstehen darf und was nicht, verhindert unnötige Komplexität.
Insgesamt führt die Cloud zu einer nüchternen, aber befreienden Erkenntnis: Nicht jede Anforderung muss tief in das ERP eingreifen. Oft ist die beste Lösung eine Kombination aus Standardprozess, gezielter Konfiguration und einem modularen Zusatzbaustein. Unternehmen, die dieses Zusammenspiel bewusst gestalten, bleiben flexibel, ohne ihre Updatefähigkeit zu gefährden – und gewinnen langfristig sowohl Tempo als auch Stabilität.
Governance, Rollen & Entscheidungsgremien
In der Frage, ob und wie ein ERP angepasst werden sollte, ist Governance oft der entscheidende, aber am wenigsten greifbare Faktor. Anpassungen entstehen nie zufällig – sie entstehen dort, wo Entscheidungen getroffen werden. Je klarer diese Entscheidungen strukturiert sind, desto seltener entstehen unnötige Sonderwege, überdimensionierte Lösungen oder spätere Update-Probleme.
Gute Governance bedeutet nicht Bürokratie, sondern Orientierung. Sie definiert, wer Anforderungen bewertet, welche Prinzipien gelten und wie Erweiterungen in das System gelangen. Gerade im Cloud-Umfeld, in dem Hersteller den Takt vorgeben, braucht es diese klare Linie, damit das System stabil bleibt und gleichzeitig flexibel genug für geschäftliche Besonderheiten ist.
In der Praxis hat sich ein zentrales Entscheidungsgremium bewährt – ein gemeinsames Board, das fachliche, technische und betriebliche Perspektiven verbindet. Es moderiert nicht nur Entscheidungen, sondern stellt sicher, dass Anpassungen nicht isoliert entstehen. Fachbereiche bringen ihre Prozesslogik ein, die Architektur prüft Stufe 0–3, Compliance bewertet Risiken und IT-Betrieb beurteilt, ob eine Lösung dauerhaft tragbar ist. Dadurch werden Entscheidungen konsistenter und vorhersehbarer.
Für dieses Board hat sich eine kleine Anzahl strategischer Prinzipien als hilfreich erwiesen. Sie sind bewusst kurz gehalten, aber wirken wie Leitplanken, die jedes Gespräch strukturieren:
- Wert vor Gewohnheit – Anpassungen müssen einen klaren Zweck erfüllen und dürfen nicht nur alte Muster abbilden
- Standard als Startpunkt – erst prüfen, was das System bereits leistet
- Stufe 1 und 2 bevorzugen – Erweiterungen sollen an offiziellen, stabilen Schnittstellen erfolgen
- Kern bleibt schlank – Custom Code im Kern nur bei geschäftskritischer Differenzierung
- Betrieb mitdenken – jede Lösung braucht Verantwortlichkeit, Pflege und Transparenz
Diese Prinzipien ersetzen lange Checklisten. Sie helfen, Diskussionen auf die Sachebene zurückzuführen. Wo diese Klarheit fehlt, entstehen häufig zwei Extreme: Entweder wachsen Anpassungen unkontrolliert, oder Fachbereiche fühlen sich gebremst. Beides schwächt ein ERP-System langfristig.
Entscheidend ist auch, dass Governance nicht nur vor der Anpassung greift, sondern über den gesamten Lebenszyklus. Jede Erweiterung – egal ob in-app, side-by-side oder im Kern – braucht eine nachvollziehbare Dokumentation und einen klaren Betriebspfad. In Cloud-ERP führt kein Weg daran vorbei, dass auch Erweiterungen wie kleine Komponenten geführt werden müssen: mit Versionsstand, Verantwortlichem, Schnittstellenbeschreibung und einer regelmäßigen Überprüfung, ob sie ihren Nutzen noch erfüllen. Governance ist damit kein Kontrollmechanismus, sondern ein Qualitätsrahmen.
Damit verhindert man den klassischen Effekt vieler ERP-Landschaften: Lösungen bleiben über Jahre bestehen, obwohl sie längst nicht mehr gebraucht werden. Ein kurzer, wiederkehrender Review ist daher Teil eines reifen Betriebsmodells. Oft reicht ein jährlich durchgeführter Blick auf Aufwand, Nutzung und Alternativen im Standard, um technische Schulden schrittweise abzubauen.
Im Kern sorgt Governance dafür, dass Anpassungen nicht isoliert entstehen, sondern eingebettet in eine klare Strategie. Es ist die Verbindung aus fachlichem Wert, technischer Sauberkeit und betrieblicher Stabilität, die ein ERP-System über Jahre verlässlich macht. Ohne diese Struktur entscheidet jeder für sich – und das System verliert seine Richtung. Mit ihr entsteht ein Rahmen, in dem Erweiterungen kontrolliert, sinnvoll und updatefähig bleiben.
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FAQ
Was versteht man unter ERP-Customizing?
ERP-Customizing bezeichnet alle Anpassungen, die über die reine Konfiguration hinausgehen. Dazu gehören Workflows, Validierungen, UI-Erweiterungen (in-app), Integrationen über APIs sowie in Ausnahmefällen tieferes Custom Code. Moderne Cloud-ERP-Systeme bevorzugen standardnahe Erweiterungen, damit Updates stabil bleiben und der „Clean Core“ erhalten wird.
Wann sollte man ein ERP-System anpassen?
Eine Anpassung ist sinnvoll, wenn sie prozesskritisch oder wettbewerbsdifferenzierend ist, einen klaren ROI innerhalb von 12–24 Monaten erzeugt und updatefähig bleibt. Komfort- oder Gewohnheitsthemen sind kein Grund für Customizing. Stufe 1 (in-app) und Stufe 2 (APIs/Side-by-Side) sollten bevorzugt werden.
Was spricht gegen zu viele ERP-Anpassungen?
Zu viele Anpassungen erhöhen die Komplexität, verlangsamen Releases und führen zu hohen Folgekosten. Besonders im Cloud-ERP können Kern-Modifikationen Updates blockieren. Zudem entstehen technische Schulden und Abhängigkeiten von Spezialwissen. Standardnahe Erweiterungen halten Systeme langfristig stabil und kosteneffizient.
Wie entscheidet man zwischen Standardprozess und Customizing?
Entscheidend sind sechs Kriterien: Prozesskritik, Wettbewerbsdifferenzierung, ROI, Update-Impact, Compliance/Risiko und Betreiberkompetenz. Ein strukturiertes Scoring (Ampel: Grün/Gelb/Rot) führt zu klaren Entscheidungen. Standard-Pilot zuerst („Learn first“), danach prüfen, ob Stufe 1/2 ausreichen. Kern-Customizing bleibt die Ausnahme.


